Angebotslandschaft

Angebotslandschaft

Während die Erforschung von Segregation und ihrer Folgen auf eine lange Tradition zurückblicken kann, gilt das nicht für die Verhinderung von Kontexteffekten. Das kann daran liegen, dass lange Zeit diskutiert wurde, ob es überhaupt eine benachteiligende Wirkung eines Stadtteils auf die Lebenschancen vor Ort geben kann. Der Nachweis und die Diskussion darüber, wie Benachteiligung durch Raum zustande kommt, prägt die Debatte in Teilen noch heute. Wenn wir aber den Befund hinnehmen, dass es benachteiligende Kontexteffekte von Wohngebieten gibt, stellt sich die Frage, wie solche verhindert werden können.

Üblicherweise ist die Antwort darauf, dass Segregation verhindert oder abgemildert werden soll, damit gar nicht erst benachteiligende Stadtteile entstehen. Das ist zwar richtig, hilft in der Realität zurzeit aber noch nicht weiter. Umgekehrt ist die Praxis kommunaler Sozialpolitik hier weiter als die stadtsoziologische Diskussion. Denn in den ärmsten Stadtteilen finden sich häufig auch die meisten sozialen Angebote, wobei es hier natürlich Ausnahmen gibt. Aber anders als beispielsweise in den USA ist es nicht so, dass sich der Staat aus armutsgeprägten Wohngebieten zurückzieht, im Gegenteil: es entwickelt sich häufig ein präsenter Sozialstaat vor Ort (Kurtenbach 2019). In mehreren Projekten ist das aufgefallen, beispielsweise zur Dortmunder Nordstadt. Dort habe ich mit einer Gruppe Studierender zusammen geforscht und alle Angebote der Sozialen Arbeit versucht zu zählen. Am Ende sind wir auf 247 gekommen. Das ist viel. Zurzeit erheben wir im Projekt „Radikalisierende Räume“ alle sozialen nicht-stationär gebundenen Einrichtungen der Sozialen Arbeit in drei Städten. Ein vorläufiges Ergebnis am Beispiel einer Stadt ist, dass rund ein Drittel aller solchen Angebote in einem Bezirk konzentriert sind, in dem aber weit weniger als ein Drittel der Bevölkerung lebt. Das heißt wir beobachten, dass es nicht nur zu einer räumlichen Konzentration benachteiligter Haushalte kommt, sondern dort auch zu einer räumlichen Konzentration von Unterstützungsleistungen.  

Um aber zu klären, ob solche Strukturen Kontexteffekte verhindern oder zumindest schmälern können, braucht es ein analytisches Konzept, um diese „Filterwirkung“ besser zu verstehen. Dafür haben wir an der Arbeitsgruppe Sozialpolitik an der FH Münster das Konzept der Angebotslandschaft ausgearbeitet. Es greift klassische Arbeiten zur „Organizational Ecology“ auf und meint die Menge aller aktiven Projekte und Maßnahmen an einem gegebenen Ort. Damit geht das Konzept der Angebotslandschaft über die Betrachtung einer einzelnen Maßnahme oder eines Projektes hinaus und blickt auf die Angebotsstruktur vor Ort. In der Kombination mit der Frage nach der Prävention von Kontexteffekten bildet es zudem eine Brücke zwischen der Forschung zu Organisationen und der soziologischen Stadtforschung, welche schon länger gefordert wird. Beispielsweise fragten bereits 2009 McQuarrie und Marwell wo denn die Betrachtung von Organisationen bei der Untersuchung von Raum bleibt. Vor allem Mario L. Small (2006) hat dies für die USA aufgenommen, hierzulande liegen aber nahezu keine empirischen Arbeiten zum Verhältnis von Raum, Organisationen und individuellem Verhalten vor.

Um das Konzept der Angebotslandschaft einordnen zu können, muss darauf hingewiesen werden, dass es kein eigenständiges Erklärungsmodell ist, sondern nur ein Element in einem solchen. Es ist eher die Meso-Ebene zwischen Stadtteil und Individuum und kann einen Einfluss darauf ausüben, ob und wie ein benachteiligender Kontexteffekt überhaupt auftritt und zugleich eine Erklärung dafür sein, wieso es in Mitteleuropa vergleichsweise gering ausgeprägte Kontexteffekte gibt. Denn im Gegensatz zu den USA, wo es eine große Anzahl empirisch gehaltvoller Studien zu Kontexteffekten gibt, messen wir in Deutschland vergleichsweise schwache Kontexteffekte von Wohngebieten. Ein Grund dafür ist wahrscheinlich, dass es in Deutschland und Mitteleuropa insgesamt eine ausgeprägte kommunale Sozialpolitik gibt, die ihren Ausdruck unter anderem in Angebotslandschaften findet. Sieben heuristische Merkmale kennzeichnen eine Angebotslandschaft:

Trägervielfalt: Eine Angebotslandschaft ist geprägt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure, welche eine spezifische Struktur vor Ort bilden. Geprägt vom Subsidiaritätsprinzip ist die öffentliche Hand vor allem Geldgeber und nur zurückhaltend selbst handelnder Akteur. Dadurch ergibt sich in jeder zu betrachtenden Angebotslandschaft eine eigene Zusammenstellung von Kompetenzen, Erfahrungen und trägergebundenen Handlungsperspektiven.

Angebotsmix: Eine Angebotslandschaft ist geprägt von sehr unterschiedlichen Typen von Projekten und Maßnahmen. Bei der Betrachtung der Struktur von Angeboten in einem Stadtteil umfasst das beispielsweise sowohl Maßnahmen der Jugendfreizeitarbeit, Drogenhilfe, Altenarbeit, Bildungsförderung bis hin zur Kulturarbeit.  

Wirkungsabsicht: Eng verbunden mit dem Angebotsmix, ist auch eine Heterogenität von beabsichtigten Wirkungen der Angebote zu beobachten. Während beispielsweise die Suchtprävention ein spezialisiertes Angebot zur Abstinenz von Drogen und auch stoffmittelungebundenen Süchten bereithält, was eine spezifische Wirkung entfalten soll, ist eine solche bei einer Maßnahme zur Bildungsförderung anders gelagert. Jedes Angebot hat sein eigenes Ziel, was auf seine eigene Weise erreicht werden soll. Das kann dazu führen, dass es eine Reihe miteinander kompatibler Angebote im Stadtteil gibt, welche eine besonders intensive Wirkung entfalten oder sich im negativen Fall gegenseitig widersprechen.

Zielgruppenbezug: In der Regel haben Angebote und Maßnahmen eine Zielgruppe, wie Familien, sportlich Interessierte, Mädchen oder Bewohner:innen einer Straße. Bei einer stadtteilbezogenen Betrachtung einer Angebotslandschaft gibt es also sehr unterschiedliche Zielgruppen, die gleichzeitig angesprochen werden und selbst, wenn alle Angebote eines spezifischen Typs beispielsweise deutschlandweit betrachtet werden, können Unterschiede ausgemacht werden (siehe dazu z.B. www.mapex-projekt.de). Bei der Analyse einer Angebotslandschaft ergibt sich dadurch ein klareres Bild über die Schwerpunktsetzung der jeweiligen Angebotslandschaft und auch ob es „Versorgungslücken“ gibt.

Festgelegte Vorgehensweise: Ähnlich wie bei den Zielgruppen gibt es auch in der Art und Weise, wie gehandelt wird, Unterschiede zwischen den Angeboten. Die jeweils festgelegte Vorgehensweise, oder auch Methodik eines Angebots, reicht vom Weg der Ansprache der Zielgruppe bis hin zur tatsächlichen Strukturierung wie gearbeitet wird (z.B. systemisch oder sozialraumorientiert). Damit bietet eine Angebotslandschaft auch eine Komplexität von unterschiedlichen Vorgehensweisen, welche auf der Ebene des Angebots jeweils festgelegt ist. 

Zeitliche Limitierung: Da eine Angebotslandschaft durch die Menge der Angebote bestimmt sind und vor allem Projekte zeitlich limitiert sind, ändert sich auch die Struktur einer  Angebotslandschaft aufgrund einer solchen zeitlichen Limitierung ständig. Das hat Vor- und Nachteile. Der Vorteil ist, dass auch auf neue Entwicklungen schnell und spezialisiert reagiert werden kann. Der Nachteil ist, dass durch die damit verbundene Personalfluktuation Knowhow und Beziehungen verloren gehen. 

Finanzielle Limitierung: Ebenso wie Angebote zeitlich limitiert sind, sind sie es auch finanziell. Mit der Mittelausstattung eines einzelnen Angebots und dann auch der gesamten Angebotslandschaft geht auch eine Begrenzung der Vielfalt und der Größe einher. Daher ist eine Angebotslandschaft immer auch Ausdruck sozialpolitischer Steuerung und des Handlungsrepertoires der lokalen Akteure. 

Mit dem Konzept der Angebotslandschaft gehen auch unterschiedliche Erwartungen einher, welche in zwei Hypothesenfamilien unterschieden werden können. Zu den Strukturhypothesen gehört die Erwartung, dass je höher die Menge der Angebote ist, desto höher ist das Ausmaß der Spezialisierung der Angebote. Der Grund ist, dass konkurrierende Angebote jeweils ein Alleinstellungsmerkmal ausbilden müssen, wie ein Jugendzentrum was ein medienpädagogischen Schwerpunkt verfolgt, währen ein anderes im gleichen Stadtteil vielleicht ein erlebnispädagogischen Fokus hat. Diese Differenzierung ist aber nur möglich, da es mehrere ähnlich gelagerte Angebote im Stadtteil gibt. Eine weitere dazugehörige Hypothese ist die Passungshypothese, die besagt, dass die in einer Angebotslandschaft zu findenden Angebote Rückschlüsse auf die lokalen Herausforderungen erlauben. Denn wenn es beispielsweise viele Angebote zur Kriminalprävention vor Ort gibt, dann können wir davon ausgehen, dass es ein kriminalitätsbelasteter Ort ist oder war. Zuletzt gehört dazu auch die Steuerungshypothese, die davon ausgeht, dass je höher das Ausmaß der Vernetzung zwischen den Angeboten einer Angebotslandschaft ist, desto wirksamer ist eine Angebotslandschaft, da es so zu einer Koordinierung der Angebote kommt.  

Daneben gibt es mindestens drei Wirkungshypothesen. Die erste ist die Sozialkapitalhypothese, die davon ausgeht, dass wenn ein Angebot in Anspruch genommen wird, steigt das individuelle Sozialkapital. Das bedeutet, dass durch jede:n Einzelne:n die/der ein Angebot in Anspruch nimmt, das Netzwerk erweitert wird und das Vertrauen in andere Menschen steigt. Damit verbunden ist die Vertrauenshypothese, welche konkret die Steigerung des Vertrauens in die Menschen im gleichen Stadtteil meint, wenn ein Angebot in Anspruch genommen wird, da in einem solchen auch Nachbar:innen getroffen werden. Weiterhin geht die Netzwerkhypothese davon aus, dass solche positiven Effekte auch indirekt zu finden sind. Denn selbst wenn es letztendlich „nur“ die eigenen Kontakte sind, die von Angeboten profitieren, wirkt sich das auch positiv auf einen selbst aus. Zuletzt meint die Stellvertreterhypothese, dass wenn Angebote im Stadtteil bekannt sind, auch das Vertrauen zueinander im Stadtteil steigt. Hierzu ein Beispiel: wenn man weiß, dass es Angebote zur Selbstorganisation im Stadtteil gibt, dann glaubt man auch, dass sie funktionieren. In der Folge wird der Nachbarschaft mehr zugetraut.

Das alles sind noch Hypothesen, was bedeutet, dass sie noch geprüft werden müssen. Auch gibt es weitere offene Fragen, deren Bearbeitung es in der Zukunft bedarf. Dazu gehört die Rolle von Vernetzung zwischen Angeboten und welche Form der Vernetzung am besten ist. Auch die Frage, ob es in einer Angebotslandschaft zu trägerbezogener Konkurrenz kommt und ob das vorteilhaft oder problematisch für deren Effektivität ist, bleibt noch ungeklärt. Ebenfalls stellt sich die Frage der Effizienz einer Angebotslandschaft, also wie ausdifferenziert und groß eine Angebotslandschaft sein muss, um für die Menschen vor Ort einen Beitrag zu einem gelingenden Alltag zu leisten. Schlussendlich stellt sich auch die Frage nach der Abgrenzung von Angebotslandschaften, was sowohl Zeit, Raum als auch Typ von Angeboten betrifft. Beispielsweise stellt sich die Frage, ob auch ehrenamtlich getragene Angebote, wie Sportvereine oder auch Glaubensgemeinschaften dazugezählt werden oder nicht.  

Die Skizzierung des Konzeptes der Angebotslandschaft zeigt das Potenzial dieses Ansatzes, um der Prävention von Kontexteffekten nachzuspüren, aber auch die vielen noch ungeklärten Fragen. Die Rolle von Organisationen bei der Untersuchung von Stadtteilen einzubeziehen, ist aber ein vielversprechender Ansatz für die weitere Forschung und die evidenzbasierte Weiterentwicklung Sozialer Arbeit und kommunaler Sozialpolitik.

Literatur

Kurtenbach, S. (2019). Präsenter Sozialstaat. Wie wir die Demokratie vor Ort stärken können. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung e.V. 

McQuarrie, M., & Marwell, N. P. (2009). The missing organizational dimension in Urban sociology. City and Community, 8(3), 247–268. https://doi.org/10.1111/j.1540-6040.2009.01288.x

Small, M. L. (2006). Neighborhood institutions as resource brokers: Childcare centers, interorganizational ties, and resource access among the poor. Social Problems, 53(2), 274–292. https://doi.org/10.1525/sp.2006.53.2.274

Siehe auch:

Heinze, R. G. (2020). Gesellschaftsgestaltung durch Neujustierung von Zivilgesellschaft, Staat und Markt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. https://doi.org/10.1007/978-3-658-30907-7

Kurtenbach, S., & Schumilas, L. (2021). Angebotslandschaften zur Prävention islamistischer Radikalisierung – Eine deutschlandweite und kommunale Analyse. In: MAPEX- Forschungsverbund (Hrsg.). Radikalisierungsprävention in Deutschland. Mapping und Analyse von Präventions- und Distanzierungsprojekten im Umgang mit islamistischer Radikalisierung. Osnabrück/Bielefeld: MAPEX-Forschungsverbund, S. 143-176.

Kurtenbach, S., & Rosenberger, K. (2021). Nachbarschaft in diversitätsgeprägten Stadtteilen. Handlungsbezüge für die kommunale Integrationspolitik. FH Münster. https://www.hb.fh-muenster.de/opus4/frontdoor/index/index/docId/13263

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