19 Feb Code of the Street: Überblick zu einem theoretischen Konzept
Straßenkriminalität und Jugendgewalt gehören zu den Dauerbrennern medialer Berichterstattung sowie gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Diskussionen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere Länder wie z.B. die USA oder Südafrika. Einer der bekanntesten Theorien zur Erklärung von Jugendgewalt ist der sogenannte Code of the Street. Im Folgenden möchte ich einen kurzen Überblick zur Theorie, ihrer Entstehung und ihren grundlegenden Annahmen geben und einige kritische Punkte benennen.
Formuliert wurde der Ansatz des Code of the Street von Elijah Anderson (1999), der bis zu seinem Ruhestand Hochschullehrer an der renommierten Yale University war. Anderson kommt bei der Auswertung ethnografischer Daten, die er zwischen den 1970er und 1990er Jahren in einem armutsgeprägten und mehrheitlich von Afroamerikaner bewohnten Stadtteil Philadelphias, Germantown, gesammelt hat zu folgendem Ergebnis: Vor allem junge Männer, in Stadtteilen mit erhöhter Kriminalität und damit erfahrener Bedrohung, bilden eigene Verhaltensregeln aus, die sowohl zu Gewalt führen als auch sie vor dieser schützen sollen. Dabei gibt es seiner Beobachtung nach zwei Gruppen; „decent“, also ordentliche, und „street“ Familien bzw. Einzelpersonen. Erstere kennen zwar den Code of the Street, haben ihn aber nicht internalisiert, Letztere schon.
Beim Code of the Street selbst handelt es sich um ein Set miteinander verknüpfter gewaltbezogener Normen, deren Kern Respekt bildet. Respekt ist eine Art kulturelles Kapital, welches durch Gewalt, Symbole und besondere Verhaltensweisen gewonnen aber auch wieder verloren werden kann. Die Funktion des Codes ist zum einen, dass mit der wahrgenommenen Bedrohung umgegangen werden kann, indem das Selbst ebenso wehrhaft wirkt. Zum anderen garantiert er eine Art Anerkennung von Menschen, die häufig nicht viel Anerkennung erfahren. Der Versuch Respekt anzuhäufen und ihn zu verteidigen erklärt das Auftreten von Gewalt, insbesondere unter Jugendlichen. Dabei wird Respekt als symbolische Währung vor allem durch andere Menschen aus dem selben Stadtteil übertragen oder auch wieder genommen. Die Annahme ist, dass Menschen, die den Code und damit einen gewalttätigen Lebensstil (z. B. Drogenkriminalität) internalisiert haben, von anderen im Stadtteil respektiert werden würden.
Kritisch anzumerken ist, dass Anderson den Code aus einem Datenkorpus herausarbeitet, von dem nur sehr wenig bekannt ist. So bleibt z. B. unklar, welche Methoden verwendet wurden und wie seine Interviews zustande gekommen sind. Zudem ist unklar in wieweit die Reichweite der Theorie ist, da sie vor allem auf Grundlage von Daten aus einem Stadtteil formuliert wurde. Und eben hier ist der besondere Kritikpunkt an dem Konzept zu sehen. Denn es wird davon ausgegangen, dass die sehr speziellen Umstände eines armutsgeprägten und mehrheitlich von Afroamerikaner bewohnten Stadtteils in Philadelphia, mit einem offen operierenden Drogenmarkt, Reaktionen erzeugt, die in ihrem Wesen allgemeingültig und damit überall auf der Welt zu beobachten seien. Hier müssten die Randbedingungen geschärft werden, ob beispielsweise eine Drogenszene im Stadtteil Vorrausetzung dafür ist, dass es zur Ausbildung eines solchen Sets gewaltbezogener Normen kommt.
Die Überlegung zum Code of the Street hat eine breite Debatte ausgelöst und zahlreiche empirische Arbeiten haben sich dieses Ansatzes bedient. Neben ethnografischen Arbeiten sind dies vor allem Auswertungen von Umfragen. Bezieht man sich auf Arbeiten aus Zeitschriften, die im Social Science Citation Index (eine Verzeichnis von Zeitschriften, die als besonders gut angesehen werden; Herzu gibt es aber auch Kritik) erfasst sind, sind es fast ausschließlich Studien zu den USA. Zudem sind es häufig Daten, welche sich ausschließlich auf segregiert lebende Afroamerikaner in Großstädten beziehen. Ebendiese Studien finden Übereinstimmungen mit Annahmen des Code of the Street. (z.B. Allen/Cellia 2010; Mears et al. 2014; Moule et al. 2015) In den wenigen europäischen Arbeiten, welche den Code of the Street nutzen, finden sich Abweichungen zu den US-amerikanischen Befunden, die darauf hinweisen, dass es kontextspezifische Ausprägungen eines Sets gewaltbezogener Normen von Jugendlichen in armutsgeprägten Stadtteilen gibt (z.B. McNeeley/Hoeben 2017).
Um aber herauszuarbeiten, ob der Code of the Street allgemeingültig oder nur auf die USA beschränkt ist oder ob es Teile gibt, die über verschiedene Kontexte hinweg stabil sind, ist bislang ungeklärt. Dieser Frage widmen sich Kollegen aus Südafrika, Pakistan und Deutschland, darunter ich selbst, in einem DFG-Projekt, welches am Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld angesiedelt ist. Dazu werten wir qualitative leitfadengestützte Interviews mit gewalttätigen männlichen Jugendlichen aus sog. „riskanten“ Stadtteilen aus allen drei Ländern aus. Die Ergebnisse werden 2019 veröffentlicht.
Literatur:
Anderson, E., (1999). Code of the street: Decency, violence, and the moral life of the inner city. New York: W. W. Norton & Company.
Allen, A. N., & Celia, L. C. (2010). Drugs, Guns, and Disadvantaged Youths: Co-Occurring Behavior and the Code of the Street. Crime & Delinquency, (March), 1–23.
McNeeley, S. and Hoeben, E.M., 2017. Public unstructured socializing and the code of the street: predicting violent delinquency and victimization. Deviant behavior, 38(6), 633-654.
Mears, D. P., Stewart, E. A., & Simons, R. L. (2014). The code of the street and inmate violence :, 51(3), 1–25.
Moule, R. K., Burt, C. H., Stewart, E. A., & Simons, R. L. (2015). Developmental Trajectories of Individuals’ Code of the Street Beliefs through Emerging Adulthood. Journal of Research in Crime and Delinquency, 52(3), 342–372.
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