Nachbarschaft: eine komplexe Selbstverständlichkeit

Nachbarschaft: eine komplexe Selbstverständlichkeit

Nahezu jeder Mensch hat Nachbarn und ist in Teil einer Nachbarschaft. Doch ist es unklar, was Nachbarschaft genau ist, wer dazugehört, was Nachbarschaft leisten kann und soll. In diesem Beitrag möchte ich einen kurzen Überblick zum Begriff Nachbarschaft geben. Dazu diskutiere ich die Unterschiede zwischen Nachbar und Nahbarschaft die Veränderungen von Nachbarschaft im Laufe der Zeit sowie das Verhältnis von Nachbarschaft und Digitalisierung.

Bei der Annäherung an Nachbarschaft ist es hilfreich zwischen Nachbar als Mensch und Nachbarschaft als räumliches und soziales Gebilde zu unterscheiden. Nachbar sind diejenigen, die relativ nah an der eigenen Wohnung wohnen. Wer genau dazugezählt wird, unterscheidet sich aber von Mensch zu Mensch. Nachbarn können diejenigen sein, die im eigenen Haus wohnen oder aber auch in derselben Straße. Nachbarn können aber auch die sein, die man regelmäßig beim Einkaufen im Supermarkt um die Ecke sieht. Wie man sich Nachbarn gegenüber verhält, hängt dann auch wieder von einem Selbst ab. Weit verbreitet ist die Vorstellung, dass man diejenigen grüßt, die man im Hausflur antrifft.

Nachbarschaft ist wiederum etwas Räumliches. Wenn man Nachbarschaft als geografischen Raum festlegen möchte, kommen fast reflexartig die Einwände wie „Das trifft aber nicht für jeden dort zu“ oder „Was ist mit denjenigen, die da am Rand wohnen? Die haben eine ganz andere Nachbarschaft.“ Das ist so richtig, wie es wenig hilfreich ist, wenn man darauf angewiesen ist, z.B. Planungsprozesse durchzuführen oder mittels amtlicher Statistik Segregation zu messen. Es verdeutlicht aber auch, dass Nachbarschaft individuell empfunden wird und z.B. entsprechend dem Lebensumständen in Ausmaß und Bedeutung variieren kann. Familien mit kleinen Kindern weisen ihrer Nachbarschaft eine andere Bedeutung zu als Studierende und nutzen sie wahrscheinlich auch anders. Nachbarschaft beschreibt damit auch das Zusammenleben unterschiedlicher Menschen in einem geografischen Raum, was ggf. auch benachteiligende Effekte mit sich bringen kann.

Nun hat sich Nachbarschaft über die Zeit sehr verändert. Vor der Industrialisierung waren es die nahen Bauern (das Wort Nachbarschaft hat sich auch aus dem Wort Nahgebur = naher Bauer entwickelt) und der Handwerker, wenn wir an Zünfte denken. In Zeiten Industrialisierung waren es dann Menschen derselben sozialen Klasse, die nebeneinander wohnten. Das hat auch Begriffe wie z.B. „Arbeiterquartier“ geprägt. Auch heute beobachten wir, dass sich soziodemografisch und soziokulturell ähnliche Haushalte in spezifischen Stadtteilen konzentrieren, was sich in Form von Segregation zeigt.

Jede Zeit hat ihre eigene Art von Regularien nachbarschaftlicher Kontakte hervorgebracht. War es früher auf dem Land selbstverständlich, dass man sich gegenseitig bei der Ernte half oder abends mit den Nachbarn vor der Haustür sprach, als die Häuser noch nicht elektrifiziert waren, sind solche Foren heute nicht mehr so selbstverständlich. Abgesehen von Nachbarschaftshilfe bei Extremereignissen, wie Naturkatastrophen, ist es manchmal gar nicht so leicht mit Nachbarn in Kontakt zu kommen, insbesondere wenn man neu in einer Nachbarschaft ist. Hier können klassische Angebote wie Vereine, Kita oder die Schule der Kinder helfen, aber auch neuere digitale Plattformen wie nebenan.de oder lokale Facebook-Gruppen bieten Möglichkeiten zum Austausch mit Nachbarn. Solche Angebote haben den Vorteil, dass man sich die Kontakte in der Nachbarschaft vorsortieren kann und nicht auf „gut Glück“ mit Nachbarn in Kontakt kommt, die einem vielleicht nicht sympathisch sind oder einfach andere Interessen haben. Den mit Nachbarn möchte man nach Möglichkeit ähnliche Werte teilen, wenn man engeren Kontakt hat (Stichwort: Homophilie-These).

Insbesondere beim Thema Digitalisierung und Nachbarschaft liegt noch viel Potenzial. Wie Nachbarschaft sich durch die Digitalisierung verändert oder ergänzen lässt, ist noch völlig offen. Auch wer genau solche Angebote nutzt und wer nicht ist in Deutschland bislang nicht untersucht. Daten dazu gibt es, beispielsweise durch Twitter-Daten. So ließe sich durch Hashtags von Stadtteilen (z.B. #Ehrenfeld) den Diskurs über die Nachbarschaft untersuchen. Auch wenn sie zu den Klassikern gehört: die Nachbarschaftsforschung bleibt ein spannendes und zukunftsträchtiges Forschungsfeld der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung.

Literatur & Links zum Thema:

https://www.awo-owl.de/freiwillige/nachbarschaft-zusammen-geht-mehr.html

Kosan, Ümit (2012). Interkulturelle Kommunikation in der Nachbarschaft, Herbolzheim: Centaurus Verlag & Media,

Reutlinger, Christian, Stiehler, Steve, Lingg, Eva (Hrsg.) (2015). Soziale Nachbarschaften. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 

No Comments

Post A Comment