Kollektive Wirksamkeit: Bedeutung und Messung eines einflussreichen Konzepts

Kollektive Wirksamkeit: Bedeutung und Messung eines einflussreichen Konzepts

Nachbarschaften unterschieden sich in vielerlei Hinsicht, ob nach Größe, Sozialstruktur oder Vertrauen. Letzteres scheint wichtig zu sein, um das Auftreten abweichenden Verhaltes und gar Kriminalität besser zu verstehen. Hierfür hat sich das Konzept der kollektiven Wirksamkeit (collective efficacy) in den letzten 25 Jahren etabliert. In diesem Beitrag möchte ich zum einen eine Definition kollektiver Wirksamkeit besprechen  und zum anderen wie diese üblicherweise gemessen wird. Abschließend wird noch weiterführender Forschungsbedarf zu kollektiver Wirksamkeit benannt.

Bereits seit den Anfängen der sozialwissenschaftlichen Stadtforschung im Chicago des frühen 20. Jahrhunderts wurden Unterschiede zwischen Stadtteilen untersucht. Ob natural areas oder funktionale Räume, immer wurde neben der Sozialstruktur auch das Zusammenleben in den unterschiedlichen Stadtteilen bzw. Nachbarschaften beschrieben. Zwar ist aus ethnografischen Arbeiten bereits früh klar geworden, dass soziale Kontakte im Stadtteil einen Einfluss auf soziale Kontrolle und damit auch auf das Auftreten abweichenden Verhaltens haben, aber lange Zeit wurde diese sozial-kulturellen Merkmale nicht systematisch direkt erfasst. Viel mehr wurde bei hoher Fluktuation in einem Stadtteil von sozialer Desorganisation gesprochen. Das hat sich spätestens Mitte der 90er Jahre geändert: Hier haben Wissenschaftler um den US- Amerikaner Robert J. Sampson untersucht, wie es umgekehrt zu sozialer Organisation kommt und ob dies einen Einfluss auf das Auftreten von Kriminalität hat. Anders als interaktionistische Ansätze bezogen sie nicht den direkten Kontakt zu Nachbarn mit ein, sondern das Vertrauen in die Nachbarn. Dabei unterschieden sie zwischen wahrgenommenen Zusammenhalt (social cohesion) und Sozialkontrolle (informal social control). Die grundlegende Annahme ist, dass je stärker die kollektive Wirksamkeit einer Nachbarschaft ist, desto weniger abweichendes Verhalten und Kriminalität sind zu beobachten.

Ebendiese kollektive Wirksamkeit wird unterschiedlich erfasst. Sampson et al. (1997) haben in ihrem grundlegenden Aufsatz folgende Fragen zu beiden Dimensionen mit einer fünfteiligen Likert-Skala genutzt:

Wahrgenommener ZusammenhaltSozial Kontrolle
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen, wenn Kinder/Jugendliche die Schule schwänzen und auf der Straße herumlungern.Menschen hier in der Nachbarschaft helfen sich gegenseitig.
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen, Kinder/Jugendliche Graffiti an Gebäude in der Nachbarschaft sprühen.Die Nachbarn kennen sich gegenseitig.
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen, Kinder/Jugendliche verhalten sich Respektlos gegenüber Erwachsene.Den Menschen in meiner Nachbarschaft kann man vertrauen.
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen.Die Menschen in meiner Nachbarschaft kommen nicht miteinander aus.
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen, wenn vor ihrer Haustüre ein Kampf ausbricht.Die Menschen in meiner Nachbarschaft teilen nicht die selben Werte.
Man kann darauf zählen, dass Nachbarn etwas unternehmen, wen die lokale Feuerwehrstation aus Kostengründen gefährdet ist. 

Der schlussendliche Wert kollektiver Wirksamkeit wird dann mit einer Faktorenanalyse berechnet. Die Fragen werden teilweise auf den Forschungskontext angepasst, da beispielsweise in Deutschland lokale Feuerwehrstationen zur Daseinsvorsorge gehören und nicht so einfach geschlossen werden können. Die zahlreichenden empirischen Befunde zeigen, dass die kollektive Wirksamkeit eines Ortes einen Effekt auf das Auftreten abweichenden Verhaltens, bis hin zu Kriminalität, hat. Doch auch Effekte auf die Gesundheit von Menschen in der Nachbarschaft sind festgestellt wurden (z.B. Cohen et al. 2006). Zudem hat sich das Konzept der kollektiven Wirksamkeit auch in anderen Ländern als den USA bewährt (z.B. Benier/Wickes 2015 zu Australien oder Leslie et al 2015 zu Südafrika).

In zahlreichen meiner Forschungsprojekte verwenden wir die Skala, vor allem zu sozialer Kontrolle, in einer angepassten Form und sie hat sie stets bewährt. Im Grunde genommen misst sie das nachbarschaftliche Miteinander. Dabei probieren wir, wenn es möglich ist, durchaus Weiterentwicklungen der Skala aus, beispielsweise bei der Integration auch digitaler Nachbarschaftskontakte. In einer postalischen Umfrage, in Zusammenarbeit mit der Stadt Dortmund, wurden vier Gebietstypen unterschieden und dort nahmen dann insgesamt als 2.719 Menschen an der Befragung teil. Die Reliabilität war mit einem Cronbachs Alpha von 0,792 gut. Folgendes Ergebnis zeigte zudem die Reliabilitätsanalyse auf der Item-Ebene. 

ItemCronbachs Alpha, wenn Item weggelassen
Die Nachbar*innen sind freundlich.0,773
Die Beziehungen zwischen den Nachbar*innen sind gut.0,765
Ich habe Probleme / Stress mit den Menschen in meiner Nachbarschaft.0,834
Ich traue mich nicht, den Menschen in der Nachbarschaft zu helfen.0,831
Ich kenne die meisten Menschen, die in meiner Nachbarschaft leben.0,765
Ich tausche mich mit Menschen in der Nachbarschaft über wichtige Dinge aus.0,754
In meiner Nachbarschaft gibt es ausreichend Gelegenheiten, sich kennenzulernen – z.B. bei Festen oder Veranstaltungen.0,772
Ich habe regelmäßig digitalen Kontakt zu meinen Nachbar*innen – z.B. über Facebook, nebenan.de, WhatsApp.0,783
Ich kann mir Gegenstände in der Nachbarschaft leihen – z.B. Werkzeuge, Lebensmittel.0,756
Wir in der Nachbarschaft achten aufeinander und helfen einander, wenn möglich.0,747
Meine Nachbar*innen und ich haben ähnliche Lebenseinstellungen.0,754
Man besucht sich gegenseitig in der Wohnung.0,757

Zu sehen ist, dass auch der abgefragte regelmäßige digitale Kontakt in der Nachbarschaft sich positiv auf die Reliabilität auswirkt, aber auch, dass die Skala insgesamt konsistent ist. Damit ist die Skala zur Messung kollektiver Wirksamkeit ein gutes Instrument zur Erfassung des Miteinanders im Stadtteil. 

Allerdings gibt es auch offene Fragen: Wir wissen noch sehr wenig darüber, wie kollektive Wirksamkeit gefördert werden kann oder wie es sich im Längsschnitt entwickelt. Außerdem wissen wir nicht, wie kollektive Wirksamkeit von unterschiedlichen Gruppen innerhalb einer Nachbarschaft genau wahrgenommen wird. Daher bietet es sich an, kollektiv Wirksamkeit im Kontext sozial- aber auch sicherheitspolitischer Interventionen zu untersuchen.

Literatur

Benier, K., & Wickes, R. (2015). The effect of ethnic diversity on collective efficacy in Australia.

Cohen, D., Finch, B. K., Bower, A., & Sastry, N. (2006). Collective efficacy and obesity: the potential influence of social factors on health. Social Science & Medicine, 62, 769–778.

Sampson, R. J., Raudenbush, S. W., & Earls, F. (1997). Neighborhoods and Violent Crime: A Multilevel Study of Collective Efficacy. Science, 277(5328), 918–924.

Leslie, H. H., Ahern, J., Pettifor, A. E., Twine, R., Kahn, K., Gómez-Olivé, F. X., & Lippman, S. A. (2015). Collective efficacy, alcohol outlet density, and young men’s alcohol use in rural South Africa. Health and Place, 34, 190–198.

Siehe auch:

Sampson, R. J. (2012). Great American City: Chicago and Enduring Neighborhood Effect Chicago, IL: University of Chicago Press.

Sutherland, A., Brunton-Smith, I., & Jackson, J. (2013). Collective efficacy, deprivation and violence in London. British Journal of Criminology53(6), 1050–1074.

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