„Khitch ne e zhivot“ – „Das ist gar kein Leben hier.“

„Khitch ne e zhivot“ – „Das ist gar kein Leben hier.“

Andreas und ich laufen eine Straße hoch, an dessen Ende viele kleine Hütten zu sehen sind. An einer Stelle sieht man einen großer Haufen aus Schutt und Müll. Andreas erklärt mir, dass hier zwei Häuser standen und vor kurzem abgerissen wurden. Das Grundstück gehört eigentlich einer Bulgarin aus dem Stadtzentrum und die Hütten sind ohne Erlaubnis gebaut. Es ist eine der ärmsten Ecken in Stolipinovo, hier sind die Häuser nur notdürftig zusammengenagelt. Wir biegen auf einen offenen Platz ein, den noch weitere Hütten umranden und fragen nach, wer Lust hätte mit uns zu reden. Eine ältere Frau führt uns in ihren Laden, in dem sie Limo und Chips verkauft. Cveta (fiktiver Name) ist 65 Jahre alt, hat sechs Kinder und 10 Enkel. Alle hier sind arm, erzählt sie uns. Viele gehen im Müll nach etwas Essbaren suchen und wenn sie wie so oft nicht erfolgreich waren, kommen sie zu ihr und bitten sie um Essen oder leihen sich Geld. Viele Kinder gehen nicht zur Schule, weil die Eltern kein Geld für das Pausenbrot und richtige Kleidung geschweige denn Schuhe haben. Wenn es Kindergeld gibt, reichen die 30 Leva (ca. 15 Euro) dafür nicht aus. 30 Leva sind einfach nicht genug. „Das ist gar kein Leben hier.“

Das Viertel Kanala – einer der ärmsten Teile von Stolipinovo

Cvetas Mann hat Asthma und ist sehr krank. Sie selbst hat ein Problem am Bein, das sie humpeln lässt. Im Krankenhaus will man erst Geld sehen, bevor man behandelt wird. Ihr Sohn ist auch schwerkrank und bräuchte 300 Leva (ca. 150 Euro) für die Krankenversicherung. Das Geld ist unmöglich aufzutreiben, denn es gebe keine Arbeit.

Früher war es hier anders, da gab es noch Arbeit. Früher war es gut. Sie hat damals in einem Krankenhaus geputzt. Mit ungefähr 16 hat Cveta geheiratet. Sie wohnte in einer Wohnung in einem der Blocks, jetzt sind sie aber zu viele, um dort zu bleiben. Es ist schwer so eine große Familie über Wasser zu halten.

Auf die Frage hin, ob sie mit ihrem Laden genug einnimmt sagt sie, dass nichts für sie übrigbleibt. Alles was sie bekommt, gibt sie Menschen, die sie nach Geld fragen und ihrer eigenen Familie. Sie kocht für ca. 25 Menschen und befeuert ihren Ofen mit Müll, da der Strom nur für einen Fernseher und eine Lampe reicht.

Sie erzählt uns, dass immer wieder Politiker hierherkommen und versprechen, etwas zu verändern, damit sie gewählt werden. 20 Leva für eine Stimme. Cveta erklärt uns verärgert, dass so viele Menschen versprechen zu helfen. Sobald die Wahlen vorbei sind, werden die Versprechen und die Menschen wieder vergessen. Sie wählt deswegen auch nicht und lässt ihre Kinder auch nicht mehr wählen. Es gibt keine Unterstützung. Von niemanden. Sie ist allein. „Wie schaffst du das alles?“ „Mir bleibt nichts anderes übrig.“

Das Einzige was sie sich wünscht ist, dass ihre Familie gesund ist und hier rauskommt.

Cveta sitzt auf einem Sofa, die Wand hinter ihr ist mit einem großen Werbeplakat tapeziert. Es sind zwei junge blonde Frauen in der neuesten Mode zu sehen. Sie schauen an Cveta vorbei, gleichgültig, ohne die geringste Ahnung, auf welche Armut sie blicken. Cveta vor diesem Hintergrund zu sehen, lässt ihre Perspektivlosigkeit noch extremer, fast ironisch wirken. „Hast du Träume für dich oder deine Familie?“ Sie schüttelt nur den Kopf.

11.04.2019. Stolipinovo, Plovdiv, Kulturhauptstadt dieses Jahres unter dem Motto #together, in einem Europa, dass unterschiedlicher nicht sein könnte.

Esther Bammel

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