KONTRASTE – Wechsel aus dem touristischen Zentrum ins Viertel Stolipinovo

KONTRASTE – Wechsel aus dem touristischen Zentrum ins Viertel Stolipinovo

Blogeintrag von Torben Penke (Gruppe „Diskriminierung / Teilgruppe „Stolipinovo“)

Nach zwei Tagen tauschen die Mitglieder der Gruppe „Diskriminierung“ gruppenintern zwischen Zentrum und Stolipinovo, um beide Stadtteile näher kennenlernen und Unterschiede und Kontraste erleben zu können. Am Mittwoch (10. April) beginnt der erste Tag unserer Teilgruppe in Stolipinovo damit, dass meine Kommilitoninnen Interviews mit Frauen aus dem Stadtteil führen. Das Interviewen von Frauen gestaltet sich schwieriger als erwartet, denn das Sprachrohr der Familie ist in Stolipinovo in der Regel der Mann. Umso mehr freuen wir uns über die geführten Interviews.

Währenddessen nutze ich die Zeit mit Kommilitoninnen und Betreuern zur Stadtteilerkundung. Nach dem kurzen ersten Eindruck vom Sonntag (07. April) kann ich mich mir einen besseren Eindruck vom Viertel, seinen Bewohnern, Straßen und Wohnblocks machen. Die Menschen in den Straßen erscheinen in vielerlei Hinsicht unterschiedlich. Die einen bezeichnen sich als Türken, andere als Roma, wiederum andere als beides. Ethnische Bulgaren, die hier wohnen sind eher die Ausnahme. Die einen kleiden sich modern, legen viel Wert auf ein gepflegtes Äußeres, die andere haben schmutzige Gesichter und tragen kaputte Kleidung. Die einen sitzen mit Freunden und Familie in geselliger Runde zusammen und trinken Kaffee, die anderen suchen im Müll nach verwertbaren Materialien oder Essen. Die einen Hunde werden an der Leine spazieren geführt, die anderen suchen im Müll nach Fressen und wirken eingeschüchtert. Neben dem Juwelier, der Schmuck für Tausende von Euro verkauft, werden Kleidung, Essen und Dienstleistungen zu Niedrigpreisen angeboten, daneben wiederum ein Schaf geschlachtet. Das Erscheinungsbild der verschiedenen Wohnblocks reicht vom in die Jahre gekommenen Block mit gepflegtem, sauberen Umfeld über den halb verfallenen Block inmitten von Müll bis hin zu Slums mit Bretterbuden und ungepflasterten Straßen.

Grenzen verschwimmen, die Übergänge sind fließend.

Man kommt leicht ins Gespräch mit den Menschen. Es wird gefragt, wie’s uns geht, woher wir kommen, wie es meinem verletzten Knie geht. Auf Deutschland reagieren alle durchweg positiv. Viele waren schon dort zum Geldverdienen. Es werden Städte wie Dortmund, Duisburg, Gelsenkirchen, Recklinghausen, Marl, Herten, aber auch Hamburg genannt. Entgegen Vorwarnungen werde ich nicht nach Jobs oder Projektgeldern gefragt, werde nur vereinzelt angebettelt und mit Prostitution komme ich auch nicht in Kontakt. In einer der zentralen Einkaufsstraßen erzählt uns eine Gruppe von Männern, dass eine Reihe von kleinen Geschäftsgebäuden von der Stadt abgerissen worden seien. Warum wüssten sie nicht, aber mancher verlor Einkommensquelle und Existenzgrundlage dadurch. Das angrenzende Fitnessstudio blieb vom Abriss verschont. Einzige Gäste sind zwei kleine Jungs, die sich mit dem Boxsack beschäftigen. Die anderen Fitnessgeräte entstammen vergangenen Jahrzehnten und warten auf Gäste. Unser Rundgang endet in einer Art Café oder Kneipe. Der Kaffee würde etwas dauern, sagt die Bedienung, denn der Strom ist gerade ausgefallen. Nach uns trifft eine Gruppe von Männern ein. Einer erzählt mir auf Deutsch, dass alle schon in Deutschland gearbeitet hätten. Es folgt mein einziges Interview auf Deutsch. In der Zwischenzeit geht das Licht an. Die Gäste jubeln und kurze Zeit später wird der Kaffee serviert.

Am Abend gibt es Grund zu feiern. Unser Dozent hat Geburtstag und hat alle Studierenden und Betreuer sowie einige Kollegen der Universität Plovdiv und Mitarbeiter der lokalen NGO eingeladen. Das ganze findet in einem Restaurant statt, welches sonst u.a. für Hochzeiten vermietet wird. Nach einer Begrüßungs- und Dankesrede, in der sich der Gastgeber über uns Studierende sehr positiv äußert und das bisher erreichte lobt, werden leckere Speisen in rauen Mengen serviert. In den Ecken des Restaurants hängen kleine Vogelkäfige, in denen Kanarienvögel rumzwitschern. Daneben läuft im Hintergrund Musik von Toni Storaro, Zafeiris Melas, Tarkan, Omar Souleyman und vielen mehr. Die Stimmung ist gelassen, auch wenn einige versehentlich bulgarischen Rakija statt des beabsichtigten türkischen Rakis bestellen.

Der Donnerstag beginnt für mich mit zwei Interviews von jungen Männern. Es wird über Plovdiv, Herkunft, Familie, Stolipinovo, Schule, Arbeit, Zusammenleben (#together), Diskriminierungserfahrungen, Träumen und Zukunftsplänen gesprochen. Später beim erneuten Stadtteilrundgang wird unsere Gruppe auf einen Kaffee eingeladen und es wird über den Stadtteil und seine Veränderung sowie Bildungschancen und Probleme künftiger Generationen gesprochen. Gespräche mit „Fremden“, die über den üblichen Small Talk hinausgehen, sind eher unüblich, weshalb die Einladung etwas Besonderes für uns ist. Beim Halt an einem Imbiss habe ich zu meiner Überraschung die Möglichkeit Spanisch zu sprechen und erfahre von einer Mitarbeiterin, dass sie viele Jahre in Spanien gelebt und in der Landwirtschaft gearbeitet habe. Nun wolle sie aber wegen der Familie in Stolipinovo bleiben. Neben Spanisch habe ich während meiner Tage im Viertel auch Türkisch, Bulgarisch, Romanes, Englisch, Deutsch und Französisch gehört.

Es waren für mich wirklich zwei besondere Tage in Stolipinovo. Kontrastreiche Eindrücke, schöne zwischenmenschliche Erlebnisse und interessante Interviews.

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