Erfahrungen und Eindrücke nach einem Tag Feldforschung

Erfahrungen und Eindrücke nach einem Tag Feldforschung

Heute, Montag, 08.04.2019, ging es morgens um 9 Uhr los. Wir sind mit dem Bus von unserer Unterkunft nach Stolipinovo gefahren. Da wir schon einen Tag zuvor dort waren, war das, was ich sah, hörte und roch nicht völlig neu. Meine Forschungsgruppe hatte jedoch die Möglichkeit, sich recht viel im Stadtteil zu bewegen, sodass ich trotzdem auch viele neue Eindrücke sammeln konnte. Ein paar Erfahrungen der ersten Interviews möchte ich hier ebenso teilen.

Schon am Sonntag waren mir verschiedene Gerüche aufgefallen. Der Geruch nach verbranntem Plastik war dabei besonders dominant. Nach dieser Feststellung ist mir auch immer öfter der Rauch aus den Schornsteinen aufgefallen, der mal sehr dunkel, mal eher gelblich und oft ziemlich dicht war. Daneben habe ich auch frisches Essen, Pferdemist und Müll gerochen. Heute habe ich dann festgestellt, dass im gesamten Stadtteil ein ganz bestimmter Geruch vorhanden ist. Es handelt sich dabei um eine ungleiche Mischung der eben genannten Gerüche, deren Mischverhältnis sich von Straße zu Straße ändert. Manchmal kommen auch neue Gerüche hinzu. Manchmal sind es weniger.

Bei meiner nächsten Feststellung war ich verwundert, dass mir das nicht bereits gestern aufgefallen ist. Ich hatte die ganze Zeit dieses Gefühl, dass Stolipinovo, lässt man die Menschen außen vor, sehr trist wirkt. Bis ich dann gemerkt habe, woran das lag. Außer ein paar vereinzelten Bäumen und Wiesen, gibt es im ganzen Stadtteil kein Grün. Dafür umso mehr graslose Erdflächen: Abseits der geteerten Hauptstraßen scheint das der normale Untergrund für sämtliche leerstehende Flächen zu sein: Hinterhöfe, Vorgärten, Nebenstraßen, Brachland.

Ich vermute, zumindest ein Grund, warum mir das nicht eher aufgefallen ist, sind die Menschen. Gerade zur Mittagszeit ist der Stadtteil sehr lebendig. Es ist laut, viele Menschen reden miteinander, es fahren Autos und Pferdekutschen durch die Straßen. Man muss die Augen überall haben, um nicht mit anderen zu kollidieren. Und trotz des vielen Mülls auf den Straßen, achten die Leute auf Ordnung. Vor den eigenen Häusern wird gefegt. Ein Balkon wird gestrichen, ein Anhänger lackiert.

Beim Gang durch die Marktstraßen sind mir neben den herumlaufenden Leuten aber auch besonders die Menschen am Straßenrand aufgefallen. Zum Teil hinter ihren Waren, zum Teil aber auch einfach am Zaun angelehnt, sitzen und hocken dort vor allem ältere Leute. Und auf fast all ihren Gesichtern haftet ein leerer Ausdruck. Selten habe ich sie lächeln gesehen.

Gute Laune ist jedoch absolut kein Fremdwort in Stolipinovo. Grüßt man Leute, freuen sie sich in der Regel und grüßen zurück. Und gerade die Kinder lassen sich von nichts in ihrem Spiel behindern. Ich hatte den Eindruck, dass jeder auf jeden achtet. Nachbarn haben sich unterhalten. Wer in Stolipinovo wohnt, der kennt auch viele Leute. Dieser Eindruck hat sich auch nach den ersten Interviews weiter verfestigt. Die Interviewten erzählten von ihren Hochzeiten. Dass dort bis zu 1000 Nachbarn, Verwandte, Freunde und Bekannte eingeladen sind. Und sie haben versichert, quasi jeden ihrer Gäste zu kennen. Einer der Interviewten berichtete von seinem Aufenthalt in London und dass er jedes Mal, wenn er dort sei, seine Familie und Freunde aus Stolipinovo vermisse. Ist er hingegen hier, fehle ihm nichts aus London. Ein großes und intaktes soziales Netzwerk scheint nach diesen ersten Eindrücken ein wertvolles und wichtiges Gut zu sein.

Daneben ist mir aber auch die Freiheit aufgefallen, die im Stadtteil gelebt wird. Am besten kann ich das mit einem Beispiel erklären: Ein Mann steht auf seinem Balkon. Neben ihm zwei große Musikboxen. Daraus ertönt laute Musik. Der Mann schwingt leicht seine Hüfte, bewegt seine Arme zur Musik und grinst auf die lebendige Straße unter ihm. Und dort guckt niemand empört nach oben zurück. Viele gehen sogar einfach vorbei ohne überhaupt zu gucken. Die Situation scheint vollkommen normal zu sein. Keiner fühlt sich auch nur in irgendeiner Weise gestört. Es kommt mir sogar eher so vor, als würden die Menschen auf der Straße gleich anfangen mitzutanzen. Auch sonst schien es mir so, als würde jeder einfach sein eigenes Ding durchziehen und dabei von allen akzeptiert werden.

Felix Mecklenburg

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