29 Jan. Normalitätsverschiebung
Normalität ist nichts Feststehendes, sondern verändert sich durch Diskussionen, Bilder, Narrative, auch mithilfe von social media, schneller als je zuvor. Gegenwärtig erleben wir im Diskurs über Geflüchtete eine merkbare Veränderung dessen, was als akzeptabel gilt oder als normal empfunden wird. Zu beobachten ist eine Normalitätsverschiebung vor allem in Ostdeutschland, was sich u. a. durch eine fehlende demokratische Infrastruktur in Folge von Gebietsreformen, ein bereits bestehendes Vorurteilsreservoir, eine mangelnde Aufarbeitung des Nationalsozialismus sowie Entsicherungs- und Abwertungserfahrungen nach der Wiedervereinigung erklären lässt. Das Toxische einer Normalitätsverschiebung ist, dass sie nur im Vergleich mit anderen Orten und Zeiten erkennbar ist und ihre Thematisierung oft als Diskreditierung des Gemeinwesens dargestellt wird. Daher braucht es eine starke Allianz von Akteuren innerhalb und außerhalb des politischen Spektrums, um solche demokratiegefährdende Entwicklungen öffentlich zu skandalisieren und ihnen entgegenzuwirken.
In den letzten Jahren gab es immer wieder die gleichen Meldungen: In einer Innenstadt kam es zu Gewalt zwischen Geflüchteten und Deutschen, was in der Folge massiven Protest rechtspopulistischer und rechtsextremer Gruppen auslöste. Dazu zählen beispielsweise die Vorfälle im Juni 2018 in Cottbus oder im August 2018 in Chemnitz. Zuvor gab es Meldungen über teils aggressive Demonstrationen gegen die Unterbringung Geflüchteter, wie z. B. im August 2015 in Heidenau. Die politische Stimmung scheint aufgeheizt zu sein und entzündet sich vor allem an Fragen ob und wie mit Geflüchteten umgegangen werden soll, insbesondere, wenn Geflüchtete straffällig geworden sind. An dieser Bruchstelle des gesellschaftlichen Zusammenhalts beobachten wir eine Veränderung dessen, was als akzeptabel gilt oder normal empfunden wird. Das Phänomen wird in der öffentlichen Debatte auch als Rechtsruck bezeichnet.
Die banal klingende Erkenntnis daraus ist, dass Normalität nichts Feststehendes ist, sie verändert sich durch Diskussionen, Bilder, emotionalisierte Statements und fehlenden Widerspruch aufgrund mangelnden Willens zum Konsens auf Basis basaler humanistischer Werte. Daraus folgt, dass Normalität, und demnach auch was als normale Handlung angesehen wird, mit Deutungsmacht verschoben werden kann, wofür es aber vermeintliche Begründungsnarrative bedarf. Bei radikalen Salafisten zentriert sich die Empörung auf die Benachteiligung und Unterdrückung von Muslimen in der Welt und bei Rechtspopulisten auf einen vermeintlich dauerhaften Bedrohungszustand im öffentlichen Raum durch (muslimische) Zuwanderer. Wird ein solches Narrativ in der öffentlichen Diskussion aufgegriffen, z. B. durch einen kollektiven Schock wie die Kölner Silvesternacht 2015/2016, wird eine vorher als extrem wahrgenommene Meinung schnell zu einer akzeptierten oder zumindest diskutierten und damit akzeptablen Meinung. Dabei hilft die informative Selbstermächtigung durch social media. Emotionalisierende und hasserfüllte Nachrichten werden schnell produziert und in Echtzeit tausendfach geteilt. Im Windschatten vermeintlich offener Diskussionen verschiebt sich die Normalität und Bewertung von Handlungen. Es wird nicht mehr widersprochen, wenn gegen Muslime oder Zuwanderer gehetzt wird, gewalttätige Worte, wie „alimentierte Messermänner“ (Frau Dr. Weidel im Bundestag zu männlichen Geflüchteten) oder „FickiFicki-Anleitungs-TV“ (Herr Lehmann im Landtag Sachsen-Anhalts zu einer Sendung des Kinderkanals), werden im politischen Diskurs gebraucht, um Gruppen (z. B. Geflüchtete) oder Soziale Bewegungen (z. B. Feminismus) zu diskreditieren.
Die normalitätsverändernde Macht der unwidersprochenen Worte führt dazu, dass es akzeptabler wird, auch ausgrenzend zu handeln, sei es durch kleine Gesten im Alltag, der Reproduktion ausgrenzender Sprechweisen oder sogar Gewalt gegenüber spezifischen Gruppen, wie Geflüchteten. Sie ist die Konsequenz einer Herabsetzung, die jenseits der diskursiven Felder nicht funktioniert. Denn die Entwicklung zeigt: Geflüchtete sind zunehmend und bereits relativ gut in den Arbeitsmarkt integriert, Zuwanderer, welche schon länger in Deutschland leben, weisen eine immer stärkere soziale Mobilität auf und formulieren gesellschaftliche Gestaltungsansprüche. So hoffnungsfroh diese Entwicklung hin zu einem Integrationsland stimmen mag, so unterschiedlich ist sie in Deutschland verteilt. Sie ist zutreffend für Großstädte wie Frankfurt a. M., Hamburg, München oder Dortmund. In anderen Regionen, wie dem Erzgebirge oder der Uckermark, ist dies nicht der Fall, auch weil die Erfolgskarrieren von Zuwanderern hier bislang nicht erfahrbar waren, schlichtweg, weil es kaum Zuwanderer gab. Zudem gibt es insbesondere in den ostdeutschen ländlichen Regionen mindestens vier Faktoren, welche eine Normalitätsverschiebung leichter ermöglichen:
1.) Der Abbau der demokratischen Infrastruktur durch Kreisgebietsreformen, weswegen Ratsmitglieder oder Amtsträger im Alltag nicht mehr ansprechbar sind. Demokratie ist hier nicht mehr erfahrbar.
2.) Die Wahlerfolge der NPD seit der Wiedervereinigung haben die Voraussetzungen geschaffen, dass ausschließende Narrative in relativ weiten Teilen der Bevölkerung greifen können. Auf diese Weise kann auf ein ohnehin bestehendes Vorurteilsreservoir aufgebaut werden.
3.) In den neuen Bundesländern gab es die 1968er-Bewegung nicht in gleicher Weise wie in den alten Ländern, sodass eine Aufarbeitung des Nationalsozialismus in den Familien (Als eigentliche Leistung!) und die Anerkennung der historischen Verantwortungsübernahme des Holocaust nicht im selben Maße vollzogen wurde.
4.) Die Wiedervereinigung ging für viele Menschen einher mit Entsicherungs- und Abwertungserfahrungen sowie Willkür. Zwar brach ein totalitärer Unrechtsstaat ohne kriegerische Auseinandersetzung zusammen, doch etablierte sich nicht sofort das gleiche demokratische Grundverständnis wie es über Jahrzehnte in den alten Ländern wachsen konnte. Es wurde auch dadurch behindert, dass „Aufbauhelfer“ aus den alten Ländern die entscheidenden Positionen einnahmen. Eine demokratische Elite konnte sich daher nur sehr langsam entwickeln. Auch heute stammt, mit Ausnahme der Bundeskanzlerin, keiner der Angehörigen des Bundeskabinetts aus den neuen Ländern. Zwar haben sich demokratische Infrastrukturen und Abläufe, wie Rathäuser, Wahlen oder Regierungswechsel, problemlos etabliert, das bedeutet aber noch nicht, dass sie immer auch mit einem demokratischen Geist gefüllt werden.
Das Toxische einer Normalitätsverschiebung ist, dass sie nur im Vergleich mit „früher“ oder anderen Orten erkennbar wird. Im Alltag ist die neue Normalität nicht wahrzunehmen und kritische Hinweise auf solche Zustände wirken wie eine absichtliche Diskreditierung des Gemeinwesens. Ein Beispiel dafür ist die Stadt Bautzen in der Oberlausitz. Dort gab es im Zuge der Unterbringung Geflüchteter teils aggressiven Protest und im September 2016 kam es zu Unruhen in der Innenstadt, mitsamt einer Hetzjagd Rechtsextremer auf Geflüchtete und ihre Unterstützer. Die Spreestadt war daraufhin deutschlandweit in den Medien präsent und sorgt seither immer wieder für Aufsehen, beispielsweise durch rechtsextreme Sponsoren von Fußballvereinen oder der Direktwahl eines AfD-Abgeordneten in den Bundestag. Im August 2018 wurde dann von einer Gruppe, welche sich selbst als „die 89er“ betitelt und sich teils aus dem Umfeld eines rechtspopulistischen und reichsbürgernahen Milieus zusammensetzt, die „Oberlausitzer Erklärung 2018“ formuliert. In dieser heißt es: „Wir fordern das Ende der negativen Darstellung unserer Heimat Oberlausitz und ihrer Menschen durch eine Minderheit. Insbesondere von den regionalen Medien, sowie den öffentlich-rechtlichen Medienanstalten erwarten wir eine objektive und nicht wertende Berichterstattung. Die Abgeordneten des Landkreises, der Landrat, sowie die Vertreter der Oberlausitz im Land- und Bundestag sollen sich dazu klar positionieren.“
Kern des Statements, welches in letzter Konsequenz die Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit bedeutet, ist die Wahrnehmung, dass die Stadt zu unrecht als fremdenfeindlich dargestellt würde und es kein Problem mit Rechtsextremismus gibt – und das trotz zahlreicher anders gelagerter Fakten. Neben dem Wahlerfolg der AfD als stärkste Partei bei der Bundestagswahl 2017 zeigt der sächsische Verfassungsschutz in seinem Bericht 2017, dass es im Landkreis Bautzen, nach den Großstädten Dresden und Leipzig, sachsenweit die meisten Fälle rechtsextremer Gewalt gab, darunter auch Angriffe gegen Andersdenkende. Die neue Normalität anzuerkennen und sich zugleich dagegen zu stellen ist aber ein anstrengender und langwieriger Prozess, der auch mit verlorenen Wahlen einhergehen kann. Um sich demnach nachhaltig gegen die Konsequenzen der Normalitätsverschiebung zu stemmen, braucht es auch die Unterstützung von Akteuren außerhalb des politischen Spektrums, wie zivilgesellschaftliche Organisationen, unabhängige Wissenschaft und freie (Lokal)Presse. Sie garantieren, dass Ausgrenzung sichtbar wird, Hintergründe erklärt und Gewalt und demokratiefeindliche Handlungsweise
Der Text ist am 12.09.2018 auch auf dem Blog der Freudenberg Stiftung erschienen.
Siehe auch:
Kurtenbach, S. (2018). Ausgrenzung Geflüchteter. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
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