30 Sep Broken-Windows-Theorie
Einer der einflussreichsten Theorien in der Erklärung von Kriminalität, welche auch den Raum mit einbezieht, ist die Broken-Windows-Theorie von Wilson und Kelling (1982). In diesem Beitrag möchte ich die Grundannahmen der Theorie erläutern und auf neue Befunde und Kritik an ihr eingehen.Der Kerngedanke der Broken-Windows-Theorie ist schnell erklärt. Es geht darum, dass physische Anzeichen von Kriminalität oder allgemeiner gesagt, Unordnung (physical disorder) abweichende Verhaltensweisen (social disorder) an Ort und Stelle legitimieren. Wo also schon ein Fenster eingeworfen ist, wird schnell ein zweites folgen und zwar viel schneller, als wenn kein Fenster kaputt wäre. Zudem führen Anzeichen von physical disorder zu einem Unsicherheitsgefühl und geringerem gegenseitigem Verantwortungsgefühl. Beides führt, so die Annahme, zu erhöhter social disorder und Kriminalitätsfurcht. Formuliert wurde die Theorie von Wilson und Kelling zu Beginn der 1980er Jahre. Dabei beziehen sie sich zentral auf ein Experiment des Psychologen Zimbardo. Dieser hatte ein Auto in der New Yorker Bronx, einem armutsgeprägten Stadtteil, und ein weiteres in einer sozial gemischten kalifornischen Stadt mittlerer Größe abgestellt. Beiden Autos schraubte er das Nummernschild ab und öffnete die Motorhaube, was zeigen sollte, dass das Auto aufgegeben sei. Nach einer Woche war das Auto in der Bronx zerstört, in der Mittelstadt nicht. Zimbardo folgerte daraus, dass unter den anonymen Gegebenheiten einer Großstadt abweichendes Verhalten nicht so stark sanktioniert wird, wie in einer Stadt mittlerer Größe. Wilson und Kelling gingen noch einen Schritt weiter und behaupten, dass phsyical disorder abweichendes Verhalten, und sie meinten damit auch Kriminalität, legitimiert.
Seitdem haben zahlreiche Untersuchungen eben diese These untersucht. Skogans Studie amerikanischer Städte hat unterstützende Befunde hervorgebracht. Doch die Theorie blieb nicht ohne deutliche Kritik. Einer der einflussreichsten Kriminologen und Stadtforscher der Gegenwart, Robert J. Sampson, hat die Theorie mehrfach als unzureichend kritisiert (z.B. Sampson/Raudenbush 1999). Sein Hauptargument ist, dass physical disorder keine kausale Ursache von Kriminalität sei. Vielmehr sind es Faktoren wie die Abwesenheit sozialer Kontrolle und mangelnde Sanktionen, die abweichendes Verhalten mancherorts gehäuft auftreten lassen. In der Folge korrelieren vielleicht physical und social disorder vor Ort miteinander, das eine führt aber nicht zwingend zum anderen und schon gar nicht zu Verbrechen.
In Deutschland haben jüngst Keuschnigg und Wolbrink (2015) die Broken-Windows-Theorie anhand von drei Experimenten getestet. Eines möchte ich hier kurz vorstellen. An zwei Münchener Studentenwohnheimen wurden nachts Werbezettel mit einer Werbung für eine nicht existierende und vermeintlich neue Autoverleihfirma in der Stadt an Fahrrädern angebracht. Die Zahl der Flyer war genau abgezählt. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Orten war, dass der eine sichtbar verunreinigt (physical disorder) war, der andere Platz hingegen sauber. Nachmittags wurden dann gezählt, wie viele Flyer jeweils auf dem Boden lagen. Das Ergebnis unterstützte eindeutig die Broken-Windows-Theorie: Vor dem Wohnheim, an dem bereits starke Verunreinigung wahrzunehmen war, nahm diese durch die Flyer noch zu. Vor dem anderen wurde keine stärkere Verunreinigung beobachtet.
Die Diskussion um Anzeichen von physischer Unordnung und deren legitimierende Funktion für abweichendes Verhalten wird wohl nie ganz abgeschlossen sein. Die hier wiedergegebenen empirischen Ergebnisse weisen auf einen Zusammenhang hin. Auch ich habe mittels strukturiert teilnehmender Beobachtungen in Köln-Chorweiler diesen Zusammenhang festgestellt. Das bedeutet aber nicht, dass physical disorder Kriminalität ursächlich bedingt. Das physical disorder aber einen legitimierenden Einfluss haben kann, kann vorläufig bestätigt werden.
Literatur
Keuschnigg, M., & Wolbring, T. (2015). Disorder, social capital, and norm violation: Three field experiments on the broken windows thesis. Rationality and Society, 27(1), 96–126.
Sampson, R. J., & Raudenbush, S. W. (1999). Systematic Social Observation of Public Spaces: A New Look at Disorder in Urban Neighborhoods. American Journal of Sociology, 105(3), 603–651.
Wilson, J., & Kelling, G. (1982). Broken Windows. Atlantic Monthly, 3, 29–39.
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