30 Sep This is our mistake
Heute begann mein erster Tag der Feldforschung in Plovdiv. Pünktlich um 9:00 Uhr machten Sebastian und ich uns auf den Weg ins Zentrum. Nach einer kurzen Fahrt mit dem Bus, befanden wir uns in der Europäischen Kulturhauptstadt. An dieser Stelle wurden die Kontraste für mich noch auffälliger. Nachdem ich einige Tage in Stolipinovo verbracht hatte, betrachtete ich die sauberen Straßen und prächtigen Gebäude mit anderen Augen. Morgens schlenderten erst ein paar Menschen unbeschwert durch die Fußgängerzone und erledigten ihre Einkäufe. Ich musste mir eingestehen, dass ich vor den Interviews in der Innenstadt mehr Bedenken hatte, wie vor denen aus Stolipinovo. Basierend auf den zahlreichen Diskriminierungserfahrungen, welche mir und Sebastian in den vergangenen Tagen erzählt wurden, fragte ich mich, ob ich meine neutrale Rolle des Interviewers wahren konnte. Zudem bereitete mir der Gedanke Unbehagen, wie die Menschen reagieren würden, wenn Sie erfuhren, dass wir bereits in Stolipinovo gewesen waren. Wir hatten zwar beschlossen, dies nicht direkt transparent zu machen, um Verfälschungen der Meinungen zu dem Ort zu vermeiden. Nichtsdestotrotz war ich mir unsicher, ob ich beim Nachhaken zu diesem Thema vielleicht doch durchblicken ließ, dass wir dort gewesen waren. In diesem Zusammenhang kam mir auch der Gedanke in den Kopf, dass wir dadurch vielleicht bei der Einzelperson ein Umdenken bewirken könnten. Doch diese Idee verwarf ich rasch. Es war nicht meine Aufgabe, die Menschen in ihren Meinungen zum Umdenken zu bewegen. Innerhalb der Feldforschung ist es unser Ziel, die subjektive und möglichst unverfälschte Perspektive der Gesprächspartner aufzunehmen.
Sebastian und ich mussten allerdings feststellen, dass wir von nun an die Interviewpartner aktiv suchen mussten. Dazu kam die Schwierigkeit, dass wir keinen Dolmetscher dabei hatten. Dementsprechend sprachen wir vorbeiziehende Passanten an. Zu unserer Überraschung klappte dies reibungslos. Zwei junge Männer sagten uns ein Interview zu. Erik und Arne waren, wie sich herausstellte, Touristenführer in Plovdiv. Sie schlugen vor, sich in ein Café zu setzen und dort das Interview zu führen. Da die beiden ungefähr in unserem Alter waren, verlief das Gespräch zunächst nicht so wie ich es aus Stolipinovo gewohnt war. Nachdem wir uns etwas zu essen besorgt hatten, nahmen wir an einem Tisch draußen Platz. Sebastian lenkte das Thema nach kurzer Zeit auf die Roma Minderheit in Bulgarien, um auf Stolipinovo zu sprechen zu bekommen. Zu unserer Überraschung stiegen beide direkt darauf ein. Arne begann allerdings damit, sich direkt dafür zu entschuldigen, die Bezeichnung „Ghetto“ für den Ort verwendet zu haben. Ich hatte mir ehrlich gesagt schwieriger vorgestellt, auf das Thema zu sprechen zu kommen. Ich war mir unsicher, ob ich jetzt transparent machen sollte, dass wir bereits dort gewesen waren. Allerdings hatte in meiner Abwesenheit Sebastian dies bereits Erik erzählt. Arne wusste davon jedoch nichts. Daher konnte sein Versuch, den Ort nicht von vorneherein abwertend zu beschreiben, als aufrichtig gewertet werden. Auch stellte er klar, dass es natürlich Probleme mit sich bringt, wenn die Menschen isoliert von dem Rest der Gesellschaft in Stolipinovo aufwachsen. Im Verlauf des fast einstündigen Gesprächs, äußerten sich Arne und Erik dabei allerdings sehr selbstkritisch in Bezug zu der bulgarischen Mehrheitsgesellschaft und deren Umgang mit der Roma Minderheit. In diesem Zusammenhang sprach er ebenfalls über die Rolle der Medien, die in seinen Augen gravierende Probleme einfach ignorierten. Der Schlüsselmoment im Interview bildete allerdings die Debatte über die Integration der Roma durch die Bulgaren. Laut Arne ist diese Hilfe, in Form von Projekten zur Integration der Roma, im Kern fehlgeleitet. Bulgaren würden demnach einfach erwarten, dass Roma ihre Kultur und Eigenschaften ablegen und sich in die Mehrheitsgesellschaft einfügen.
„[…]This is why most Bulgarians see that integration at is assimilation. This is bad. This is bad on us. This is our mistake“
Das Gespräch lief auch nach Ende der Tonaufzeichnung weiter. Natürlich war mir bewusst, dass es mit Sicherheit auch zu Interviews kommen würden, die nicht so angenehm verlaufen. Doch half es ungemein auf Menschen zu treffen, welche sich selbstkritisch mit der Thematik der Roma Minderheiten in Bulgarien auseinandersetzen.
Zugegebenermaßen liefen die darauf folgenden Gespräche in der Tat nicht immer so reibungslos. Ich musste mich stärker darauf fokussieren, nicht aus meiner Rolle als Interviewer zu fallen und leidenschaftslos die Meinungen der Personen aufzunehmen. Allerdings bleibt es festzuhalten, dass die überwiegende Anzahl der Menschen mit denen ich in Plovdiv Interviews führte, eine offene Einstellung gegenüber den Menschen in Stolipinovo hatten.
David Uekötter
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