21 Apr Rück- und Vorblick
Ein Teil der Feldforschung ist vorbei. Es ist verblüffend, wie schnell die Zeit im Nachhinein vergangen ist. Ein Semester, ein halbes Jahr, haben wir uns darauf vorbereitet. Haben Literatur, Filme und Vorträge zu Themen wie Transnationalität, Diskriminierung und Roma gelesen, geschaut und gehört. Zehn Tage waren wir unterwegs. Zwei Tage an der Universität für die Workshops und vier Tage in der Innenstadt von Plovdiv.
Die Innenstadt ist wunderschön. Es gibt unzählige historische Ecken. Die Straßen sind auffällig sauber und es gibt viele Einkaufsmöglichkeiten.
Sechs Tage haben wir in dem Stadtteil Stolipinovo verbracht. Am Anfang war die Situation erschreckend. Auch wenn es vereinzelt neue, moderne Häuser gibt, eine Vielzahl an Häusern ist zu lange nicht mehr renoviert wurden, viele wurden abgerissen – es sind nur noch Reste von ihnen zu sehen – und einige werden in naher Zukunft abgerissen sein. In manchen Teilen des Stadtviertels ist es auf den Straßen sauber, in anderen umso vermüllter. Es ist ein Ort, an dem teure Autos über gut gebaute Straßen fahren und nicht wenig Menschen im Müll nach einer Existenzgrundlage suchen. Erschreckend war auch, wie schnell wir uns daran gewöhnt haben, vor Ort zu sein. Die unterschiedlichen Menschen, mit unterschiedlichen Sprachen und unterschiedlichen Geschichten. Es handelt sich um einen Stadtteil, wo Menschen in ein Raster gesteckt werden, heterogener aber nicht sein könnten.
Die Menschen haben mit uns ihre Geschichten geteilt, andere sie vor uns verschwiegen. Aber das war ok. Würde ich doch auch nicht jedem auf der Straße meine erzählen. Umso bewegender war es dann, wenn Menschen etwas mit uns teilten. Einige sprachen über Diskriminierungserfahrungen, Arbeitssuche, über Ängste und wie sehr Sie der Müll störe. Andere sprachen mit uns über Hoffnungen, Träume und wie wichtig Familie Ihnen sei. Einige sprachen darüber, wie sie Arbeit suchen würden, andere darüber, dass der Lohn nicht reichen würde. Einige betonten, dass Sie sich für Ihre Kinder nur das Beste wünschten, andere wie Sie Zuhause Gewalt erfahren. Einige beteuerten, wie unzufrieden Sie mit der Situation des Landes seien, andere wie stolz Sie darauf seien, aus Bulgarien zu kommen.
Wir haben uns an die Menschen gewöhnt, haben uns darauf gefreut, die Kinder bei der NGO und andere auf den Straßen wieder zu sehen. Wir haben uns gefreut, wieder nach Stolipinovo zu kommen, ein Teil des belebten Straßenlebens zu sein, mit den Einheimischen in der Schlange am Imbissstand zu stehen, wo alles nur halb so viel kostet wie in der Innenstadt. Aber immer im Hinterkopf, dass wir das Privileg haben, uns das leisten zu können und den Stadtteil auch jederzeit wieder verlassen zu können. Das Privileg zu haben, in das Flugzeug zu steigen, in die eigene Wohnung zu kommen, Leitungswasser zu trinken und unter warmen Wasser zu duschen. Wenn es zu kalt wird, die Heizung anzumachen und uns in unser Bett zu kuscheln. Den Fernseher anzuschalten und dabei auf das Essen aus dem Ofen zu warten. Wenn es uns nicht gut geht, einen Arzt aufzusuchen und bei gutem Wetter uns sorglos in der Innenstadt zu bewegen. Das haben viele Leute vor Ort selten, einige niemals.
In zu vielen Fällen, verschließen die Europäische Union und ihre Bürger und Bürgerinnen die Augen vor Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Chancenlosigkeit. Wir hatten die Chance, uns selbst ein Bild zu machen, mit den Leuten zu sprechen und Ihnen auch hier in Deutschland eine Stimme zu geben. Das wäre ohne die Europäische Union nicht so leicht möglich gewesen. Wir gehören zu denen, die von der Europäischen Union profitieren, zweifellos. Aber jetzt geht es darum, Vorurteile aus dem Weg zu räumen und Menschen einen Raum für Perspektiven zu geben. Diese Chance wollen wir nutzen. Und genau deswegen ist erst ein Teil der Feldforschung vorbei. Es geht nun um die Auswertung des Materials, um Forschungsberichte und öffentliche Aufmerksamkeit.
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